Landschaftsfotografie mit Nicolas Alexander Otto


In den letzten Jahren bin ich immer mehr dazu übergegangen, lieber die blaue als die goldene Stunde zu fotografieren. So nennt man die Zeit, nachdem die Sonne untergegangen (oder bevor sie aufgegangen) ist und der Himmel und mit ihm auch die Landschaft in bläulich anmutendes Licht getaucht sind. Die meisten Landschaftsfotografen bevorzugen wahrscheinlich das warme Licht der goldenen Stunde, kurz bevor die Sonne unter den Horizont sinkt. Aber ich habe hier einige Gründe zusammengeschrieben, warum Sie in Betracht ziehen sollten, während der blauen Stunde zu fotografieren, anstatt Ihre Kamera wegzupacken und Heimweg anzutreten, oder eben einer Stunde früher aufzustehen, um das morgendliche Spektakel mit zu nehmen.

Der mächtige Vulkankrater Askja, in den Tiefen des zentralen Hochland Islands, beherbergt in seinen über 40km² einige kleinere Krater, wie den hier eisblau schimmernden Vití. Um die Einsamkeit und majestätische Natur des Ortes einzufangen, wartete ich bis nach Sonnenuntergang, um auch den Himmel und den im Hintergrund sichtbaren Öskjuvatn in ein tiefes Blau tauchen zu lassen.

Natürlich ist das erste, was vielen Fotografen in den Sinn kommt, dass es zu diesen Tageszeiten ruhig und still ist. Etwa befinde ich mich – meist Abends – an einem Ort, an dem ich während des Sonnenuntergangs unbedingt fotografieren will, und es sind immer noch viele Menschen in der Nähe. Diese lenken mich von meiner Komposition ab, laufen durch meine eben diese oder, je nachdem wie bekannt ein Ort ist, rempeln sie mich vielleicht aus Versehen an. Das ist zum Beispiel in der Sächsischen Schweiz – genauer an der Bastei – schon mal passiert. Doch plötzlich, nachdem die Sonne verschwunden ist, neigen die meisten Touristen dazu, das Interesse an der Landschaft zu verlieren, ob nun wegen der nahenden Nacht oder dem knurrenden Magen, und in kurzer Zeit bin ich allein und kann die Gelassenheit genießen, ohne menschliche Ablenkung zu fotografieren. Dieses Gefühl, einen Ort für mich allein zu haben, überträgt sich oft auf meine Bild und macht es auf persönlicher Ebene umso wertvoller. Ebenso kann man eine Stunde früher vor Ort sein, und an bekannteren Orten noch die Zeit haben, eine gute Komposition auszuprobieren und gegebenenfalls hat man noch die freie Platzwahl. Probieren Sie deshalb mal den Wecker etwas früher zu stellen. Und wer weiß, vielleicht gefällt Ihnen das Bild aus der blauen Stunde dann ja sogar besser als der Sonnenaufgang.

Während meines diesjährigen Winterwonderland Workshops auf den Lofoten, fotografierte ich mit meinen Klienten den bekannten und atemberaubend schönen Strand Uttakleiv. Normalerweise ist der Strand gut besucht. Doch wir machten uns bereits lange vor Sonnenaufgang auf den Weg, um die blaue Stunde zu fotografieren, welche im Winter auch mal gut erst um neun Uhr morgens sein kann. Wir hatten den gesamten Küstenabschnitt für uns allein. Lange nachdem wir unsere Bilder im Kasten hatten und nur noch ein wenig mit anderen Kompositionen experimentierten, kamen die ersten Kollegen der Zunft an den Strand.

Ein weiterer Grund, warum Sie warten sollten, bis die Sonne untergegangen ist, ist dass das Wetter möglicherweise besser wird oder Wolken aufklaren. Nehmen wir an, Sie haben einen dunstigen Sonnenuntergang. Oft können sich die Wetterbedingungen aufgrund des fallenden Quecksilbers schnell ändern, nachdem die Sonne hinter den Horizont gesunken ist. So kann ein grauer Himmel auch mal einem sanften und schönen Blauton weichen, bevor die Himmelsfarben zu schwarz übergehen. Vielleicht bilden sich auch die ersten Nebelschleier über Wald und Wiesen.

Ähnliches kann über die blaue Stunde am Morgen vor Sonnenaufgang gesagt werden. Dies ist die beste Tageszeit, um neblige Bedingungen vorzufinden. Insbesondere dann, wenn bei hoher Luftfeuchtigkeit, die durch Schauer am Abend oder der Nacht zuvor erhöht wurde, Windstille herrscht. Für dichten Nebel brauchen Sie dafür allerdings einen Temperaturabfall unter den Taupunkt. Es ist sehr lohnend, im frühen Morgennebel zu fotografieren, da er dabei hilft, bestimmte Bereiche oder Objekte in Ihrer Komposition zu isolieren und Szenen, die sonst mit ablenkenden Elementen überladen wären, schön und ordentlich strukturiert wiederzugeben. Nebel trägt ebenso ungemein zu der mythischen Atmosphäre eines Bildes bei und verlieht Ihren Aufnahmen ein geheimnisvolles Flair.

Eine der verrücktesten Nebelsituationen die ich fotografieren durfte, war ein verhangener Morgen in der Wüste Utahs. Der hier eingefangene Turret Arch - teil des Arches National Parks - schien komplett losgelöst aus der Landschaft wie in einem Traum zu stehen. Mein Freund und Landschaftsfotograf Philipp Lutz stand für mich Model, um die Atmosphäre für Betrachter noch greifbarer zu machen.

Ich weiß, dass viele Landschaftsfotografen knallige Sonnenuntergänge und rosarote Wolken wegen ihrer grafischen Wirkung bevorzugen, aber rein statistisch sind die meisten Sonnenuntergänge langweilig und farblos oder sie sind einfach nicht atemberaubend genug, um mit dem Schritt zu halten, mit was man am Tag zuvor in den sozialen Medien gesehen hat. Auch wenn die Jagd nach fantastischen Sonnenuntergangsfarben der Motivator gewesen sein mag, Ihre Kamera in den Rucksack zu packen und aus dem Haus zu gehen: Sollte der Himmel „mal“ nicht in Flammen stehen, warten Sie einfach auf die blaue Stunde nach Sonnenuntergang. Die blaue Stunde bietet sanfte Blautöne, die für einen verträumten Bildlook sorgen, und auch die Luft kann aufgrund der Luftschichtumwälzungen wie bereits erwähnt klarer von Dunst sein. Blau ist immerhin die Farbe der Sehnsucht und es hilft, eine normalerweise vielleicht nicht ganz so spektakulären Landschaft einen anmutigen Charakter und die nötige Farbe zu verleihen. Vielleicht hatten die Romantiker von einst nur allzu recht damit, blau als die Farbe der Sehnsucht zu bezeichnen, vielleicht ist es genau das, warum ich immer mehr zum Fotografieren während der blauen Stunde tendiere, egal ob morgens oder abends.


Hier im Vergleich eine Langzeitaufnahme des Wettersteingebirges vor Sonnenuntergang und etwa eine Dreiviertelstunde später mit Mondaufgang hinter dem Bergmassiv. Die dünne Wolkendecke lässt einiges des atmosphärischen Leuchtens durch und sorgt so für ein imposantes Ergebnis. Häufig ist die Wolkendecke jedoch zu dick, dann spreche ich eher von einer „grauen Stunde“.
Der Dunst in den Ebenen von Südafrika reflektiert lange nach Sonnenuntergang noch etwas des Sonnenlichts, während das gesamte Himmelszelt wie eine gigantische Softbox ein Fülllicht auf die Landschaft wirft. Diese Aufnahme der über 1000 Meter hohen Mnweni Needles am Fuße des Drakensberges, ist bis heute eine meiner liebsten Aufnahmen aus der blauen Stunde.

Mit dem Aufkommen des Tages gibt es das Gefühl, etwas zu erleben, das andere Menschen vielleicht nicht einmal bemerken oder gar zu schätzen wissen. Das sanfte Licht, lange bevor die Sonne ihre ersten Strahlen auf Sie scheinen lässt, kann atemberaubend sein, wenn Sie sehen, wie es alles um Sie herum langsam zum Leben erweckt. Ob Sie nun das erste Zwitschern der Vögel oder das erste Muhen einer Kuh auf dem Felde vernehmen. Früher als die meisten aufzustehen kann sich allein für die Erfahrung selbst lohnen. Diese verheißungsvolle Zeit, die von Möglichkeiten des kommenden Tages in Schattierungen von Türkis bis Azur erzählt, oder das Gefühl die letzten Augenblicke des anstrengenden und ereignisreichen Tages also solche wahrzunehmen und das dahinsterbende Licht unseres nächsten Sterns einzufangen, hat eine ganz eigene Magie.

Als ich in der Dunkelheit hinab zum Strand ging, war ich noch ganz allein. Nachdem ich die ersten Testaufnahmen gemacht hatte, und der Mond langsam wie geplant ins Bildkader sank, bemerkte ich, wie die ersten Surfer am Praia da Adraga, nahe Sintra in Portugal, mit ihren Aufwärmübungen begannen. Bald erkannte ich einige hundert Meter abseits einen Vater, der mit seinem Sohn in der Brandung stehend die Angel auswarf. Als ich dieses Bild gerade belichtete, bemerkte ich die ersten Meeresvögel um mich herumfliegen. Langsam wurde es Tag; ein umwerfendes Gefühl. Später würde der Strand vor Touristen und Einheimischen nur so wimmeln und der Zauber würde verflogen sein.

Ich war schon immer jemand, der mit der Digitalkamera nach etwas sucht, dass das bloße Auge möglicherweise nicht einmal wahrnehmen kann. In der Lage zu sein Dinge optisch zu erfassen, die wir nicht einmal sehen können, ist faszinierend. Es gibt viele Möglichkeiten auf diese Art spannende Bilder im Halbdunkel zu erhalten, welche Landschaftsdetails zu Zeiten zeigen, in denen mit bloßem Auge fast nichts mehr zu erkennen ist. Während der frühen oder späten Phase der blauen Stunde - je nachdem ob nun morgen oder abends - kann die Kamera Details erkennen, die wir nicht sehen können. Oft wird dies erreicht, indem einfach eine längere Verschlusszeit verwendet wird, um beispielsweise die Bewegung in den Wolken, den hereinrollenden Nebel, die orangefarbenen Farbtöne der Lichtverschmutzung im Himmel oder die ersten Sterne des Vorabends, welche bereits am Himmel blinken, zu enthüllen. Ich liebe es, jedes Mal aufs Neue zu sehen, was mein Sensor im Zwielicht auffängt, und meiner Arbeit einen surrealen Look verleiht. Während dieser Langzeitfotografieansatz mit der klassischen Nacht-, oder Astrofotografie ebenso einhergeht, gibt es doch einen wichtigen Unterschied. Am Ende der blauen Stunde des Abends etwa, wenn das Himmelszelt nicht mehr als eine große Fläche leuchtet, sondern die Atmosphäre nur noch in Richtung des Sonnenuntergangs Licht reflektiert, haben Sie sehr angenehm weiches aber dennoch gerichtetes Licht. So können Sie Ihren Landschaftaufnahmen Dimension verleihen, ohne die harten Kontraste des Tageslichtes zu haben. Ebenso ist es sehr einfach, eine gleichmäßige Belichtung zu erhalten. Tagsüber ist der Himmel oft viel heller als der Vordergrund, während der blauen Stunde hingegen, ist das Licht zwischen Himmel und Erde ausgeglichener, sodass Sie keine Mehrfachbelichtungen oder Grauverlaufsfilter-Filter benötigen.


Etwa eine Dreiviertelstunde nach dem Sonnenuntergang, werden die Vulkane des Kerlingarfjöll Gebirgszugs samt ihrer schneebedeckten Gipfeln noch indirekt erleuchtet, die Täler mit ihren warmen, von Geothermie gespeisten Bächen, liegen jedoch schon im Schatten. Trotz des weichen Lichts hat der Vordergrund noch Dimension aber die Belichtung ist angenehm gleichmäßig. Zum Einsatz kam lediglich ein Polfilter.

Bei den zwielichtigen Verhältnissen der blauen Stunde gibt es teils so wenig Licht in der Landschaft, dass Sie problemlos auch Langzeitbelichtungen ohne Graufilter aufnehmen können – anders formuliert, es besteht die Notwendigkeit, dies zu tun, wenn Sie keine Fotos mit einer hohen ISO Einstellung machen wollen, welche Ihnen unnötiges Bildrauschen bescheren. Für Puristen und solche, die mit den Effekten von Langzeitaufnahmen experimentieren wollen, bietet sich die Tageszeit also bestens an. So können Sie einfach etwas Geld sparen und schauen, ob Ihnen diese Spielart der Fotografie gefällt.

Denn Filter kosten Geld, Sie müssen sie mit in der Tasche herumtragen und je nachdem welche Objektive Sie besitzen, müssen Sie gegebenenfalls für ein großes Weitwinkel mit konvexer Frontlinse sogar aufwendige und kostspielige 150 mm Filter verwenden. Um dies zu vermeiden, nutzen Sie einfach die teilweise Abwesenheit des Lichts zu Ihrem Vorteil; und obwohl es je nach Breitengrad und Jahreszeit möglicherweise nur eine kurze Zeitspanne ist in der Sie fotografieren können, um längere Belichtungen vorzunehmen, kann es ausreichen, einige großartige Aufnahmen zu machen ohne in Filter investieren zu müssen.

Ich hoffe, dass diese kleinen Anstöße einige unter Ihnen dazu motivieren, die zusätzliche Stunde länger zu bleiben oder früher aufzustehen, um die Vorteile zu nutzen, die die blaue Stunde für uns Landschaftsfotografen bereithält. Vergessen Sie nicht wärmere Kleidung mitzubringen, ein extra Paar Socken kann ebenso hilfreich sein wie Müsliriegel für etwas nötige Energie am Morgen, oder gönnen Sie sich vielleicht eine Thermoskanne mit einem warmen Tee oder Kaffee. Sollten Sie noch länger in die Nacht fotografieren, oder morgens Langzeitbelichtungen machen wollen, nehmen Sie doch ein kleines Sitzkissen mit, denn der Boden kühlt nachts schnell aus und ist morgens vielleicht nass vom Morgentau. Damit viel Spaß und Gut Licht!

„Nicolas Alexander Otto ist freischaffender Landschaftsfotograf. Am liebsten fotografiert er in den frühen Morgenstunden irgendwo weit weg von zu Hause im Zwielicht des anbrechenden Tages. Landschaftsfotografie ist seine künstlerische Form des Eskapismus und das Antidot zu seinem ständigen Fernweh. Er leitet Fototouren für verschiedene private und öffentliche Auftraggeber, verkauft Prints, schreibt für unterschiedliche internationale Magazine und ist Gastgeber im Landschaftsfotografie Podcast. Für seine Arbeiten wurde er wiederholt international ausgezeichnet.“

- Nicolas Alexander Otto